Zweiter Weltkrieg, DDR, Corona: Helga Weyhe hat viel erlebt. Am Montag ist Deutschlands älteste Buchhändlerin im Alter von 98 Jahren verstorben
Ihr ganzes Leben widmete sie den Büchern. Stets mit dem Ziel, Menschen neugierig zu machen. Nur selten verließ sie die Buchhandlung, die schon ihr Vater und davor ihr Großvater geführt hatten. Einmal reiste sie nach Amerika. Nach New York zu ihrem Onkel, der in der Lexington Avenue ebenfalls eine Buchhandlung besitzt. Die meiste Zeit aber, blieb sie. In dem kleinen Laden mit den schokoladenbraunen Bücheregalen.
Als ich Helga Weyhe im Januar 2018 das erste Mal traf, war ich nervös. So nervös, dass ich den Mietwagen beim Parken auf einem salzwedeler Bordstein aufsetzte. Mist!, dachte ich und betrat damals vollkommen durcheinander die Buchhandlung Weyhe. Statt einer, blieb ich sechs Stunden. Wir wurden nur langsam warm miteinander, doch dann richtig. Wir aßen gemeinsam zu Mittag. Ich blieb auch am Nachmittag und kam an einem anderen Tag zurück. Zweimal schrieb ich ihr eine Karte, dreimal telefonierten wir in drei Jahren. Ich habe sie nicht gut gekannt, aber es genügt, um sie zu vermissen.
Man hat eine Verantwortung als Buchhändlerin. Bücher können Leben verändern.
Schon ihr Großvater hatte in dem knarzenden Fachwerkhaus in der Altperverstraße 11 Bücher verkauft. Helga Weyhe selbst wurde am 11. Dezember 1922 im 1. Stock geboren. Früher hätten hier oft Schriftsteller übernachtet. „Ich erinnere mich, wie ich mit ihnen als Kind gesprochen habe", sagte sie einmal. Wir saßen damals hinten im Laden. Überall lagen Bücher. An der Wand hingen schwarz-weiß Fotos der Familie. Einen Computer gab es auch, aber der passte nicht ins Bild.
Helga Weyhe besaß eisblaue, kluge Augen. Ihre goldenen Jahre lagen in den Kriegsjahren. Wenn es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, wäre sie vielleicht gereist und wäre nicht in Salzwedel geblieben. Doch da war nichts zu machen. Obwohl alles hätte anders kommen können, schien Helga Weyhe stets zufrieden in ihrem alten Laden. Sie mochte die Menschen und die Menschen mochten sie. „Man hat eine Verantwortung als Buchhändlerin. Bücher können Leben verändern", sagte sie einmal. Und ein anderes Mal: „Bücher haben mir so viel gegeben. Sie bedeuten Freiheit."
Das letzte Mal, das wir schnackten, war letztes Jahr. Es war ein Gespräch von knapp einer Stunde. Wir sprachen darüber, was wirklich zählt im Leben und ich fragte sie, was ihr Geheimnis für ein glückliches und erfülltes Leben sei. „Das ist schwer. Ich denke, man sollte ebenmäßig leben. Sich Ziele setzen, aber nicht denken, dass die Welt untergeht, wenn man sie nicht erreicht. Ich glaube die Gelassenheit ist eines der höchsten Güter, die ein Mensch besitzen kann."
Auf die Frage, „Womit sollte man im Leben nie aufhören?" sollte, sagte sie: „Neugierig und offen zu bleiben. Menschen und Ideen gegenüber. Ideen sollte man stets prüfen."
Helga Weyhe war eine außergewöhnliche Frau, die viele Herzen berührte. In liebevoller Erinnerung folgt hier ein Film, der von meinem Partner und Filmemacher, Jack Sewell, gedreht wurde. Er war stets dabei, wenn wir uns sahen und fing Szenen ein, die vielleicht ein Stück weit zeigen, wer sie war – als Buchhändlerin und als Mensch. Ruhen Sie in Frieden, liebe Frau Weyhe.
Ihre Cora Remmert & Jack Sewell
"Welche Kraft liegt doch in den Worten und in diesem Film. Es ist eine Kunst, Dinge einfach geschehen zu lassen und sich selbst dabei zurückzunehmen. Nur daraus entsteht ein solch wundervoller und besonderer Moment."
*Das Feedback wurde von einer Schreibgefährtin verfasst, bei der die Kommentarfunktion nicht funktionierte.
Der Text und auch der Film über Helga Weyhe hat mich sehr berührt. Was wird nun aus dem Buchladen? Vielen Dank für den tollen Beitrag an Euch.